Quelle: Aus Textskript zum Film

DERRIDA

in memoriam:

Jacques Derrida
starb am 14.Okt. 2004,
74 Jahre alt

Zu einem Film von Kirby Dick und Amy Ziering Kofman. Kinostart war Nov.2003


Philosophen haben die Liebe nur verschieden interpretiert, es kömmt aber darauf an, sie zu erleben

B.S.:   Meine Paraphrase der 11. Feuerbach-These von Marx sei als Einstieg gewählt. Haben Philosophen, weil sie denken, etwas zur Liebe zu sagen, dass über jedermanns Eigenerfahrung oder gar therapeutische Praxis-Erfahrung hinauskommen kann?

"Wir suchen doch alle den Therapeuten, der uns liebt", war mein Bonmot im Feb. 2005, wohlwissend, dass allgemein gilt: der Liebende kann dich nicht therapieren und der Therapeut darf dich nicht lieben. Lesen, bei den Philosophen Rat suchen, kann jeder selbst. Am Tag als ich erfuhr, dass Heidegger ein heimliches ausser-eheliches Verhältnis zu seiner Studentin Hanna Arendt hatte, überwand ich meine politisch vorgeprägten Ressentiments gegen ihn und kaufte mir "Sein und Zeit".

Im Film DERRIDA, 2 Jahre vor seinem Ableben gedreht, mit einem geistig frischen Mann, verwickelt Frau Kofman Derrida in eine Befragungstechnik, um den Mann zum Reden zu bringen, der sich als einen der ersten Philosophen der Schrift und des Buches sieht. In seinem Hauptwerk "Grammatologie" erhebt er Hegel zu dem Ersten, der in seiner Lehre von der Entstehung des menschlichen Geistes dieses Thema behandelt und ernstgenommen hat. So stellt Hegel die Buchstabenschrift den Hieroglyphen gegenüber und betrachtet erstere als die intelligentere, der Geistesbildung dienlichere, weil Sie den Schreibenden Abstraktionsfähigkeit anerziehe. Diese Argumentation liegt nahe an der Erfahrung von Künstlern, aber auch Mathematikern, die sich von dem Naturalistischen, oder vom bloss gegebenen Konkreten lösen. So kann das Bühnenbild des Theaters abstrakter sein und damit die Phantasie des Publikums doch umso mehr anreizen. Was bei Hegel als Nebenthema erschien, zentralisierte Derrida 1967 zum ersten Gesichtspunkt seiner Umdeutung der Philosophie-Geschichte. Zur Belebung des Themas sei noch auf den Aphorismus verwiesen:
"Sokrates, der nicht schreibt", definierte sich als philosophierende Hebamme, die dem ANDEREN im Dialog bei der Selbsterkenntnis hilft.


Interview mit Jacques Derrida

Aus dem Textskript zum Film gekürzt, in Unterparagraphen zerlegt, mit eigenen Hervorhebungen und teilweise kommentiert

Kofman:Was fällt Ihnen zum Thema Liebe ein?
Derrida: Zu welchem Thema? Liebe oder Tod?
Kofman: Liebe. Über den Tod haben wir genug gehört.
......
Derrida:Dazu kann ich nichts sagen. Stellen Sie mir wenigstens eine Frage. Ich kann nicht einfach so über das Thema Liebe reden. Es wäre mir lieber, Sie würden eine Frage stellen. Ich kann unmöglich Allgemeinplätze über die Liebe abgeben. Unmöglich! Oder wollten Sie, dass ich öffentlich zugebe, dass ich über die Liebe im Allgemeinen nichts zu sagen habe.
Kofman: Könnten Sie uns dann erklären, warum dieses Thema die Philosophie seit Jahrhunderten beschäftigt?
Derrida:Die Liebe ist doch ein wichtiges philosophisches Thema. Das dürfen Sie mich wirklich nicht fragen.
Kofman: Warum haben Philosophen sich damit beschäftigt?
Derrida:So hat die Philosophie im Grunde angefangen. Nein, nein, ich kann das nicht, mein Kopf ist da vollkommen leer. Auch bei der Frage, warum Philosophen viel von der Liebe sprechen, ist mein Kopf leer oder voller Klischees.
Kofman: Plato interessierte sich sehr dafür. Können Sie dazu etwas sagen?

B.S.:   Erst die Berufung auf Plato bringt den Maestro auf die Palme, dessen Augenhöhe wahrend, er nun erst zu sprechen beginnt, als Philosoph, als Erklärer, der das Risiko der Banalisierung seiner Äusserung eingehen muss. Sokrates sprach: "Hätte ich geschwiegen, wäre ich Philosoph geblieben", ein Satz dessen Banalisierung angesichts seines per Stierlingsbecher verabreichten Todes augenfällig ist.


B.S.

Der Dramatiker Max Frisch äusserte sich in biographischen Notizen (DDR-Zeit, 70iger, "Volk & Welt"), sinngemäss:
Du sollst, mich liebend, kein Bild von mir machen. Dies anfangend, beginnt die Liebe zu sterben.

Ist das ein negativer Definitionsversuch für das, was Derrida im Interview als eigentlichen Liebes- und Treue-Gegenstand einführt, die "absolute Einzigartigkeit"? Und zwar als eine des geliebten Menschen für den Liebenden, der sie weiss, nicht von ihm losgelöst an-sich hat.

Wenn Frischs Bilder-Verbot ein gute Übersetzung für Derridas "absolute Einzigartigkeit" ist, führt sie dann in Paraphrase des göttlichen Verdikts "Ihr sollt Euch kein Bild von mir machen!" letztlich doch wieder zurück zu dem abendländisch-philosophischen Podest des Menschen als göttliches Wesen.

Hegels Liebes-Definition mag einen anderen Weg beschreiten (man suche und finde im "System der Sittlichkeit",1806, oder in Axel Honneths Buch über das "Prinzip Anerkennung" bei Hegel):
Lieben heisst sein Eigenes in einem Fremden (wieder-)zufinden (nach meiner Erinnerung).
Das Eigene, ein Inneres, ein Gut, Prinzip, Substanz eines Lebens, Lebenswerk, Gewachsenes, Spätes, nichts für Jugendliebe jedenfalls - passt das zu Derridas Dilemma?

Das mutet wie eine philosophische Paraphrase zu Shakespeares Sentenz auf dem Balkon der Liebe in "Romeo und Julia" an:
"Give me the gracious Self"
, damit ich es dir wieder und wieder zurückgeben kann (meine Übersetzung)
, sagt J. zu R..


Bernd Seestaedt
Last modified: Tue May 31 22:32:45 MEST 2005