"Was treibt dich nur immer wieder ... zur Philosophie?"

Sich auf die Philosophie einzulassen ist eine Lebensentscheidung. Du wirst zum Maniac. Erst recht, wenn du zunehmend verstehst, wieviel noch offen ist. Es gab 3 Gründe, diesen Weg zu gehen:

(1) Die ostdeutsche Abiturstufe enthielt 1 Jahr Philosophie-Unterricht. Die Denkschemata von damals ("erst Materie, dann Bewusstsein", "Bewusstsein=bewusstes Sein", Bewusstsein=Abbild der objektiven Realität [=Materie?]") sind dem Scholaren tief verhaftet, weil Hänschen anders lernt. Sie sind als Warnpfosten eingeschlagen, bedrücken - aber sicher sind sie besser als Philosophie nur aus Illustrierten zu erfahren.

(2) Mein Mathematik-Studium in nur 4 Jahren, dem zwangsläufig hohen Selbststudienanteil für nicht-behandelte Themen wie z.B. die Antinomien der Mengenlehre. 1988 fand ich bei meinem Philosophen-Vorbild in der DDR-Szene, Peter Ruben, in einem paradoxerweise aus Zensurgründen in der Mathematischen Schülerbibliothek des Teubner-Verlages erschienenen Taschenbuch, "Mathematik und Philosophie", die Begründung:

Der Denkbereich der Mathematik ist selbst in einem Ergänzungsverhältnis gegliedert zu fassen: Deskriptive und konstruktive Mathematik. Man denke an das sog. Auswahlaxiom: zu jeder Menge von Mengen, auch unendlichen, gibt es eine Funktion, die aus jeder seiner Mengen je ein Element auswählt. Für die deskriptive Mathematik (und in meinem Studium) kein Problem. Die konstruktive Mathematik, wie in der Wikipedia richtig vermerkt, lehnt das Prinzip ab, weil zu einer unendlichen Menge i.A. kein Konstruktionsprinzip, also auch kein Auswahlprinzip bekannt sein muss. Dem Mathematik-Studenten wurden diese Differenzen nicht enthüllt. Über Brouwer und Wittgenstein las ich dagegen in einer ostdeutschen Schüler-Enzyklopädie, eines von vielen hervorragenden ostdeutschen Nachschlagwerken. Die Leistung zu DDR-Zeiten aufwendig gestalteter Sachbücher ist ein Thema für sich!

In der alt-griechischen Schule der Eleaten (540 v. Christus) waren Philosophen und Mathematiker noch ein vereinigter Haufe. Davon zeugte der Spruch über Platons Hörsaal:

"nur für Mathematiker" 1

(3) Hommage für den Vater eines Klassenkameraden und Autor, Martin Döbler
1967 musste ich bei ihm, meinem Elternbeiratsvorsitzenden, "antreten", weil ich zeitweilig von der Schule suspendiert war. Der Mann, Vordenker in einer akademischen SED-Denkfabrik, dachte über "menschliche Bedürfnisse" tatsächlich ausgehend von "einzelmenschlichen" Schicksalen nach. Das Opus (s. rechts) dieses Mannes zu dechiffrieren, um die "menschlichen Probleme" wiederzufinden, war mir damals zu mühsam. Ich spürte, dass es ihm ernst war und schenkte seinen "Geheim-Informationen" Beachtung. "Triebkraft Bedürfnis - zur Entwicklung der Bedürfnisse der sozialistischen Persönlichkeit"
Dietz Verlag, Ost-Berlin, 1969
Begierde×Bedürfnis×Begehren (Be3)
philosophisches Fragen nach dem "Menschlichen" der Antriebskräfte des Menschen?

(4) Die Vorbilder und persönlichen Anreger waren und sind Peter Ruben, Michael Wolff (Universität Bielefeld) und der Kanadier Warren Breckham (Universiät Pensylvania). Hartwig Schmidt war der erste, der mein "Philosophieren im Selbstversuch" kritisch unterbrach ("nicht sich etwas Vorstellen, was ein Begriff bedeutet, sondern ..."). Er lernte selbst noch und lenkte mich auf die in Ostdeutschland nie an Hochschulen gelesenen Marx-Texte ("Pariser Manusskripte" von 1844, Marx "Humanismus", und v.a. die "Deutsche Ideologie" als das vermeintlich erste  wissenschaftliche - andere sagen "reife" - Werk von Marx)


1 Laut Wikipedia-Eintrag zur platonischen Akademie heisst es stattdessen "Kein der Geometrie unkundiger möge eintreten". Also prüfe sich erstmal der diplomierte Mathematiker selbst, ob er denn auch ein Geometer sei.

Bernd Seestaedt
Last modified: Mon Jun 25 17:16:15 MEST 2007