Auschnitt aus dem Artikel Verfehlungen (Glossen zu Anekdoten)
in "Akzente", Zeitschrift für Literatur, 37.Jahrgang, Heft 5, Okt.1984
Carl-Hanser-Verlag, München


Hans Blumenberg

Wittgenstein (W.) trifft Frege (F.) in Jena

W. besucht F., den Fixstern an seinem Philosophenhimmel neben Russell. Er (W.) kommt im Dezember 1912, auf der Durchreise in die Weihnachtsferien bei seinen Eltern, nach Jena mit der bestimmten Vorstellung, wie der Begründer der mathematischen Logik aussehen müsse. Er klingelt, und es öffnet ihm ein Mann, zu dem W. sagt, er sei gekommen, Prof. F. zu sehen. Er sei Prof. F., erwiderte der Mann. "Unmöglich!", entfährt es dem perplexen W.

Von dieser Überraschung war die folgende Unterredung überschattet. W. berichtet später, F. habe mit ihm machen können, was er wollte, so unklar seien seine eigenen Gedanken gewesen.

Da hatte F. Glück gehabt. Es fand sich nicht leicht jemand, dem W. jemals Recht gegeben hätte. Er hatte die nur für ihren Besitzer angenehme Begabung, seine jeweiligen Einsichten für unumstösslich und endgültig zu halten und seinen Mitmenschen durch den damit verbundenen Eigensinn zuzusetzen. Seine Erlebnisse von Evidenz müssen überwältigend gewesen sein. Die Briefe, die den nachmaligen "Tractatus", ankündigen, sprachen die Sprache des philosophischen Finalismus. Die Welt war alles, was der Fall ist, und das Erstlingswerk enthielt darüber alles, was zu sagen war. Stilistisch drückte sich das aus in der apodiktischen Kürze seiner Sätze. Der Nimbus der "Logisch-philosophischen Abhandlung" kommt aus der Rhetorik der Kargheit. Über das Endgültige lässt sich nicht soviel sagen wie über das Vorläufige. Als W. 1912 Mitglied des Cambridge University Moral Science Club geworden war, hielt er seinen Pflichtvortrag über das Thema "Was ist Philosophie?" Nach dem Protokoll jener Sitzung dauerte der Vortrag nur 4 Minuten und war damit der kürzeste Vortrag des Debattierklubs. Es war eben, wenn man die Frage genau beantworten wollte, nicht mehr zu sagen.

Das gehört zum Sinn für Evidenzen.

Zu ihm passt W.'s ausgeprägtes Sensorium für das Physiognomische. Der Weg von den dürren Abstraktionen des "Tractatus" zum Konzept der Familienähnlichkeit in Begriffsbeziehungen und Sprachmustern führt über die schlichte Metaphorik der physiognomischen Züge von Sachverhalten und Bedeutungen. Vielleicht war das ein Erbe seines Vaters. Karl W. war als Siebzehnjähriger mit dem Consilium abeundi der Schule nach Amerika durchgebrannt und hatte, nach dem üblichen Einstand als Kellner, einem Barbesitzer, der unter den Gästen, die bei ihm in der Kreide standen, die Neger nicht auseinanderkennen konnte, die genau passende Dienstleistung angeboten. Es war der erste Schritt auf dem Weg zum Reichtum, den der Sohn Ludwig W. verachten sollte. Der ererbte physiognomische Sinn aber ist als "Problem" dem Sohn geblieben. Woher weiss ich, daß etwas Eintretendes das Erwartetete ist? Eine der Antworten verrät, an welche Präzision W. dabei gewöhnt war: Erwartung ist die Hohlform, der sich die Erfüllung einpasst.

Das führt auf die Situation des Besuches bei F. zurück. Es sollte sich bestätigen, daß dieser nicht der gewesen sein sollte, den W. zu sehen erwartete. Denn er wird den "Tractatus" nicht verstehen. Enttäuscht berichtet W. an Russell (im Oktober 1919, B.S.): "Mit F. stehe ich im Briefwechsel. Er versteht keine Wort von meiner Arbeit und ich bin schon ganz erschöpft von lauter Erklärungen".


Robert Leicht verwendete 2002 in der "Zeit" gleich zwiefach dies Wort: einmal um den 1."Blauen Brief" aus Brüssel an die SPD-Regierung einzunorden, zum anderen definierte er:
"consilium abeundi, den Rat also, von der Schule (besser) abzugehen", und darum gehts im obigen Text !!


Bernd Seestaedt
Last modified: Tue Feb 15 22:04:31 MET 2005